Donnerstag, 8. Februar 2007

Noemi Stadler-Kaulich / La Paz im November 2006/Januar 2007

Monatsnotiz–I/2007:


Besuch bei den Asháninka in der Amazonasregion von Peru


Eine Gruppe von 16 DEDlern aus Bolivien, Brasilien, Chile, Ecuador, Guatemala und Peru sitzt auf einfachen Holzbänken unter dem Schutz eines großen Wellblechdachs, von dem das Regenwasser nur so tropft. Uns gegenüber hocken Männer und Frauen des Stammes der Asháninka, letztere jede mit ihrem Stillkind im Schoß. Einige tragen Shorts, vor allem die Frauen jedoch die lokale Tracht, bestehend aus einem erdfarbenen Kittel, der bis zu den Knien reicht (cushma). Viele Gesichter und Arme sind zum Schutz vor Ungeziefer und Sonnenstrahlung von der Oito–Frucht schwarz eingefärbt. Vor uns stampfen nackte Füße auf dem sandigen Boden. Etwa 25 Kinder zwischen 5 und 14 Jahren führen einen Tanz auf, der die Geschichte der hier wohnhaften Asháninka-Sippe erzählt, eine Gruppe von rund 15 Familien oder insgesamt etwa 120 Personen.

Der Tanz erzählt davon, dass die Asháninka, vor langer, langer Zeit, als die Familien noch vereinzelt an den Ufern des Rio Tambo und Rio Ene lebten, fliehen mussten, um nicht von einem Ungeheuer aufgefressen zu werden. Immer weiter und immer wieder mussten sie fliehen. Schließlich beschlossen sie sich zu einer größeren Gruppe zusammenzuschließen und dem Ungeheuer gemeinsam gegenüberzutreten. In ihrem gemeinsamen Vorhaben waren sie gar so stark, dass die das Ungeheuer besiegen konnten. Seitdem leben sie wieder glücklich und in Frieden in ihrer Heimat CoriteniTarso, einem Streifen Urwald-Land zwischen dem Ufer des Rio Tambo und einer senkrechten, hochhaushohen Kalkwand.

Die Herkunftsgeschichte dieser Asháninka-Sippe und die darin erkennbare Beschreibung von Flucht, Verfolgung und Todesangst mag uralt sein – bereits die Inca haben die Urwaldindianer innerhalb ihres „Reiches der vier Weltgegenden“ unterworfen[1] – trifft jedoch auch für die späten 80er Jahren zu, als viele Asháninka, wie auch diese Sippe, von den Truppen des Sendero Luminoso fliehen mussten. Etliche wurden dennoch umgebracht[2]. Zusätzlich standen sie bis vor kurzem unter dem Druck der Kautschuksammler, Goldgräber, Holzfäller und Holzaufkäufer und neuerdings der Siedler aus dem Hochland, wo die Ressourcen Ackerland und Bewässerungswasser immer knapper werden. Durch den Einsatz des DED-Peru hat sich zumindest für die Sippe von CoriteniTarso im vergangenen Jahr einiges positiv verändert: Diese Asháninka-Gruppe ist heute im Besitz des Landtitels über ihr Territorium, kann also von Rechts wegen nicht mehr vertrieben werden und der peruanische Staat ist verpflichtet, sie gegen unliebsame Eindringliche zu schützen.

Unser Besuch bei den Asháninka in CoriteniTarso hat den Zweck, eine der Aktivitäten des DED-Peru in der Region Satipo kennenzulernen: Social Forestry. Alle deutschen Übersetzungen, so haben wir neben anderen Ergebnissen während unseren vorausgehenden und anschließenden Sitzungstagen zu diesem Thema feststellen müssen, entsprechen nicht wirklich der Semantik dieses englischen Begriffes, nämlich Forstwirtschaft, ausgeübt von einer Gruppe von Menschen mit dem gemeinsamen Interesse, dass es jedem einzelnen Gruppenmitglied und der Gruppengemeinschaft durch diese Aktivität besser geht als vorher (der spanische Begriff heißt: Manejo Forestal Comunitario, abgekürzt: MFC). Die Asháninkas erwirtschaften ihren Unterhalt heute wie vormals als Jäger, Fischer, Sammler und Subsistenzbauern, d.h. sie roden kleinere Flächen und bauen darauf Yucca, Süßkartoffeln, Mais, Reis, Zuckerrohr und Bananen an. Allerdings sind die Fischgründe nicht mehr so reichhaltig, seitdem der Rio Tambo durch den Bergbau in den Anden verschmutzt wird und die aus dem Hochland zugezogenen Siedler, colonos, mit Dynamit fischen. Auch der Wildbestand hat stark abgenommen. Darüber hinaus hat die Welt des Konsums ihre Krallen auch Richtung Urwaldbewohner ausgestreckt, weshalb jede Gelegenheit zum Geldverdienen willkommen ist. So hat in dieser Sippe jede Familie eine Agroforstparzelle (charcra) angelegt, in der in Mischkultur Kaffe, Kakao, Mahagoni und anderes wächst. Diese Agroforstparzellen haben folgende Vorteile: Erstens lässt sich auf dem Markt für Kakao- und Kaffeebohnen aus naturnahem Anbau ein verhältnismäßig guter Preis erzielen, zweitens erfordern diese langjährigen Kulturen nicht alljährlich die Rodung neuer Flächen und drittens benötigen naturgerecht angebauter Kakao wie auch Kaffee Schattenbäume, so dass sich insgesamt der Druck auf den Regenwald vermindert. Darüber hinaus ist das Mahagoni-Holz eine Anlage für spätere Zeiten, quasi eine Natural-Wertanlage jeder Familie, nach dem Motto: „Agrarprodukte für die Gegenwart, Bäume für die Zukunft“. Diese Gruppe der Asháninka weiß inzwischen auch um den wahren Wert der Holzbestände in ihrem Wald. Statt wie früher eine Machete im Wert von rund 2,- € gegen einen Mahagonibaum mit einem Holzwert von 2.000,-€ einzutauschen, fällen sie heute ausgesuchte Bäume aus eigenem Bestand selber, strikt nach staatlich bewilligter Freigabe, wodurch dieses Holz eine Zertifikation erhält. Für solch legales Holz zahlen die Schreinereien gerne etwa mehr, denn sie können sicher gehen, dass nicht überraschend die Polizei aufkreuzt, um das vorrätig gestapelte Holz zu konfiszieren, wie es das Gesetz für nicht staatlich bewilligte Holzstämme vorschreibt. Der gefällte Stamm wird von den Asháninka noch am Fällort zu Holzbalken zerteilt und diese, ohne große Bilateralschäden, aus dem Urwald hinausgetragen. Mit einer kleinen finanziellen Unterstützung der deutschen Botschaft konnten sogar zwei holzverarbeitende Maschinen gekauft werden und unter Mithilfe eines Schreinermeisters lernen ausgewählte Männer der Asháninka-Sippe das Rohholz zu verarbeiten. Letzteres demonstrieren sie uns mit viel Enthusiasmus. Die Qualität der Verarbeitung lässt allerdings noch zu wünschen übrig. Aber woher sollten sie auch um Qualitätsstandards und damit zusammenhängende Vermarktungsregeln wissen!?!

Nach der gelungenen Tanzvorführung werden wir aufgefordert Kunsthandwerk zu erstehen, vorwiegend Halsketten und Armbänder, von den Frauen aus verschiedenen Samen und Affenzähnen gefertigt. Affenfleisch ist ein begehrtes Nahrungsmittel der Asháninka, aber keines, das sie am heutigen Tag ihren Gästen vorsetzten. Wir werden auf je einen Teller Reis mit gebratenen Hähnchenstücken eingeladen. Dann verabschieden wir uns mit einem herzlichen „pasonki“, Dankeschön.

Einer meiner Kollegen meinte nach unserem Besuch: „Man konnte erkennen, dass dieses Volk gerade mit der Zehenspitze in den Kreis der Zivilisation eintritt.“ An was war dies festzumachen?
Nach Wikipedia beinhaltet der Begriff Zivilisation:
Ein arbeitsteiliges Wirtschaften – im Gegensatz dazu bewirtschaftet jede Asháninka-Familie in CoriteniTarso eine eigene Agroforstparzelle, jedes Sippenmitglied beteiligt sich darüber hinaus geschlechtergemäß an allen Aktivitäten, die der Gemeinschaft förderlich sind.
Ein gewisses technisch-mechanische Entwicklungsniveau – außer Macheten besitzt die Gruppe gemeinsam eine mechanisch betriebene Holzsäge und eine Holzpoliermaschine, die durch einen Kleinprojektefond der Deutschen Botschaft in Lima angeschafft werden konnten. Beide werden bei Bedarf durch einen Dieselmotor angetrieben. Diese drei Geräte und ihre Installation auf Sandboden, im Schutze eines Wellblechdachs und zwischen Urwaldbäumen entsprechen wohl kaum obiger Definition.
Eine geordnete Verwaltungsstruktur – diese Sippe ist traditionell als Gruppe organisiert, von einer Verwaltungsstruktur kann jedoch nicht die Rede sein.
Ein gewisser materieller Wohlstand – ich meine beobachtet zu haben, dass alle Sippenmitglieder gut genährt waren, jeder verhältnismäßig saubere und ordentliche Kleidung trug und vor alle die Gesichter eine tiefe Ruhe und Zufriedenheit ausstrahlten. Das bedeutet zwar nicht materiellen Wohlstand im westlichen Sinne, aber dennoch ein Leben in Würde und Frieden mit sich selbst und der Umwelt.

Persönlich lassen mich folgender Beobachtungen darauf schließen, dass zwischen der Weltanschauung und den Lebensumständen dieser Menschen und westlichen Werten und Lebensvorstellungen eine gewisse Kluft besteht:
Am auffälligsten waren für mich die zahlreichen jungen Mädchen, die sich durch das Darreichen der Brust als Mütter von Kleinkindern outeten, von denen einige bereits laufen konnten. Das heißt Mutterschaft in sehr frühen Jahren (meine DED-Kollegin Raquela, die vor Ort arbeitet, meinte zu mir, dass die meisten zwischen 13 und 14 Jahren ihr erstes Kind bekommen) und eine sehr lange Stillzeit, die sicherlich auch notwendig ist, da keine Milch produzierenden Haustiere gehalten werden.
Recht einseitige Nahrung, vor allem auf Kohlenhydraten beruhend, kein Gemüseanbau, keine Vorratswirtschaft.
Wohnstätten, die eigentlich nur aus erhöht liegenden Holzbrettern und einem Schutzdach aus Palmwedeln bestehen, was auf ein gewisses Nomadentum hindeutet.
Keine besondere Aufmerksamkeit für Kinder, die aus dem Stillalter hinausgewachsen sind; diese Kinder sind einfach überall mit dabei und dürfen ihren Bewegungsdrang jederzeit voll ausleben, sie erledigen ohne jeglichen (für mich erkennbaren) Widerstand alters- und geschlechtspezifische Aufgaben (ein kleines Mädchen schleppte ein nur etwas kleineres Kind herum, auf das es wohl aufzupassen hatte).

Die Rückreise nach Satipo, der Provinzstadt, in der wir diese Woche eine jugendherbergsähnliche Unterkunft haben, bedeutet erst einmal gut zwei Stunden Hockstellung in einem einbaumähnlichen Holzboot mit Außenbordmotor auf dem Rio Tambo. Dessen Uferbewachsung weist alle möglichen Grün-Schattierungen auf. Allerdings ist bei näherem Hinschauen eine weihnachtsbaumähnliche Dekoration erkennbar: Im Ufergebüsch, ein bis zwei Meter über dem aktuellen Wasserstand, hängen Tausende von Plastikfetzen, Überbleibsel von Plastiktüten, die bei Hochwasser andenabwärts gespült wurden. An der Anlegehaltestelle des Wassertaxis warten die vierrädrigen Sammeltaxis, mit denen wir weitere 2,5 Stunden über Rüttelpisten durch die hügelige Landschaft der Sierra Central, der zentralen Urwaldregion Perus fahren. Rechts und links Monokulturen der colonos: Kakao, Kaffee, Orangen, Mandarinen, Papaya, Ananas und Zuckerrohr. Wenn in diesen Pflanzungen nach einigen Jahren Pflanzenkrankheiten und Schadinsekten die Überhand gewonnen haben, werden diese Ackerflächen sich selbst überlassen und neue Flächen gerodet. Noch gibt es genügend Urwaldboden rund um den Amazonas.

Ähnlich unachtsam wie mit der Natur gehen die Menschen in dieser Region miteinander um. Zu Zeiten der Kakao- und Kaffeeernte häufen sich bewaffnete Überfälle im Städtchen Satipo, das in diesen Zeiten von etwa 25.000 Einwohnern auf das Doppelte anschwillt. Mord, Totschlag, Raub, Waffen- und Drogenhandel sind an der Tagesordnung in einer Gesellschaft, die seit knapp zwei Generationen die Gräueltaten des Sendero Luminoso erdulden musste. Diese Guerillaorganisation ist in dieser Region noch heute in kleinen, versprengten Gruppen aktiv.[3]

Nach knapp einer Woche in der schwülheißen Amazonasregion von Peru – wir haben, außer am Tag des Ausflugs, täglich von morgens bis abends getagt, uns über verschiedene Fachthemen ausgetauscht, einen workshop zum Thema Good Practices in Social Forestry durchgeführt und inhaltlich einem Leistungsangebot in diesem Bereich zugearbeitet – reisen wir zurück nach Lima. 12 Fahrstunden dauert die 400 km-Fahrt in einem üblichen Reisebus auf geteerter Straße, die wegen den zu überwindenden Höhenunterschieden – Lima liegt auf Meereshöhe, Satipo auf 400 Meter über NN, dazwischen ist ein 4.818 Meter hoher Pass zu überwinden – eine Aneinanderreihung von Haarnadelkurven ist. Gegen Mittag halten wir in dem Bergbaustädtchen La Oroya, vor kurzem zu einem der 10 am meisten verschmutzten Orte der Welt gekürt, um uns zu stärken. In La Oroya wird Zinn, Kupfer und Blei versinntert und das dabei entstehende Schwefeldioxyd (die gleiche Menge pro Zeiteinheit wie Belgien und die Niederlande zusammen!) ungefiltert in die Luft entlassen. Die umliegenden Berghänge sind gänzlich abgeätzt, die Bewohner dieses Ortes leiden unter Vergiftungserscheinungen.

Wir erreichen Lima bei Sonnenuntergang. Ein roter Ball steht im bleigrauen Smoghimmel. In Peru werden fast alle Motoren durch Diesel betrieben. Das im Land geförderte Schweröl ist eines der schwefelhaltigsten auf der ganzen Welt, es gibt in ganz Peru jedoch keine einzige Entschwefelungsanlage. Deshalb versinkt Lima, die 8 Millonen-Stadt (die Einwohner von ganz Bolivien würden in diese Mega-Stadt hineinpassen!) tagtäglich im Smog, der zudem durch ein spezifisch-lokales Klimaphänomen über der Stadt festgehalten und fein verteilt wird: Dem Nebel. In Lima regnet es nie, höchstens dass sich die Nebeltröpfchen so verdichten, dass sie als Griesel zu Boden sinken. Alljährlich von März bis mindestens Ende September versinkt die Stadt in einer Nebelwolke. Manchmal, wie dieses Jahr, hält diese sich bis November, wenn eigentlich der Sommer und damit der Sonnenschein in Lima bereits begonnen haben sollte. Hatte er jedoch weder zu unserer Ankunft noch bis zu unserer Abreise nicht. Und so weiß man nicht, ob man frieren oder schwitzen soll, denn die nahezu 100% Luftfeuchtigkeit steigert den Fühlungsgrad dieser beider Sinneswahrnehmungen auf unangenehmer Art und Weise. Zumindest bei mir, der ich die trockene Kälte oder Hitze aus La Paz und Cochabamba gewohnt bin. Und überallhin verfolgt einen der Geruch nach Schimmel!

Was bin ich froh, in La Paz wohnen und arbeiten zu dürfen....
[1] Über die Bedeutung des Namens Asháninka gibt es verschiedene Meinungen. Die einen sagen, Asháninka (asha-n-Inka) würde bedeuten: „Wir gehören dem Inka an“, andere Übersetzungen sprechen von „Brüder der Menschen“, Brüder von Allen“ oder ganz einfach „Leute“.
[2] Die peruanische Wahrheitskommission schätzt die Zahl der ermordeten Asháninkas auf 4.000, der Verschleppten auf 5.000 und der Vertriebenen auf 10.000, bei einer heutigen Gesamtzahl von etwa 60.000. Als Grund dafür wird genannt, dass die Asháninka in der „roten Zone“ zwischen dem Militär und den Guerilleros des Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad) aufgerieben wurden.
[3] Das Auswärtige Amt warnt Reisende vor dem Besuch dieser Gegend. Meine DED-Kollegin vor Ort, eine Quechua-Indigena aus Ecuador, die in Deutschland mit Hilfe eines Stipendiums Forstwirtschaft studiert hat, weiß um die Gefahr und bewegt sich deshalb nur bei Tageslicht und stets im Schutz ausgesuchter Schlüsselpersonen.

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